Das Verkehrsverhalten der Schweizer Bevölkerung: Wahrnehmung versus Empirie

Text publiziert in der Collage 5/17: Mobilität / Mobilité / Mobilità – quo vaids?

 | Jonas Bubenhofer |

Öffentliche Diskussionen über Mobilität und Verkehr werden meist emotional, subjektiv und immer wieder von Irrtümern geleitet geführt. Die umfassende Erhebung Mikrozensus Mobilität und Verkehr (MZMV) bietet empirisch gestützte Fakten, um unsere subjektive Wahrnehmung des Verkehrs zu überprüfen und hält uns den Spiegel hinsichtlich unseres Verkehrsverhaltens vor.

Irrtum 1: Wir werden immer mobiler 

2015 haben wir im Mittel 36.8 km (Tagesdistanz pro Person) zurückgelegt. Diese Distanz ist in den letzten Jahren recht stabil geblieben: 2010 waren es 36.7 km, 2005 35.2 km. Konstanz ist auch bei der Tagesunterwegszeit sichtbar: Im Schnitt waren wir im Jahr 2015 90.4 Minuten pro Tag unterwegs. Seit 2005 ist eine Abnahme von einigen wenigen Minuten erkennbar.

Anders verhält es sich bei einem Blick auf die letzten 20 Jahre. Im Vergleich zu 1994 ist ein Anstieg der Distanzen um 5.5 km zu beobachten. Die Tagesunterwegszeit hat um knapp 8 Minuten pro Tag zugenommen.

Der damalige Sprung in der Tagesdistanz dürfte vor allem auf den Ausbau der Bahninfrastruktur zurückzuführen sein. Durch Bahn 2000 oder die S-Bahn Zürich konnten einige Strecken zwar in kürzerer Zeit zurückgelegt werden, die «gewonnene» Zeit wurde aber offensichtlich für zusätzliche oder weitere Reisen eingesetzt.

Daraus lässt sich schliessen, dass sich je nach Geschwindigkeit des Verkehrsmittels aus dem konstanten Reisezeitbudget die mögliche Distanz ergibt. Wird die Geschwindigkeit im Netz erhöht, werden entsprechend längere Distanzen zurückgelegt (und somit auch keine Reisezeit eingespart).

Der Gesamtverkehr im Inland nimmt aber trotz konstanten Tagesdistanzen pro Person weiter zu, weil mehr Menschen hier leben. Um in unserem Verkehrsverhalten effizienter zu werden, sind weitere Anstrengungen notwendig: Eine Stagnation der Distanzen pro Person genügt nicht – unsere Bedürfnisse sollten wir künftig in kürzerer Distanz befriedigen können.

Eine Voraussetzung für die Befriedigung der Bedürfnisse innerhalb kurzer Distanzen ist die Konzentration von Nutzungen und Angeboten im Wohnumfeld der Personen, damit insbesondere Einkaufs- und Freizeitwege verkürzt werden können. Eine hohe bauliche Dichte kann dieses Ziel unterstützen: Je höher die mittlere Dichte im Umfeld des Wohnortes, desto mehr Wege werden zu Fuss und desto weniger Wege per MIV zurückgelegt [Abb. 1].

Abbildung 1: Modalsplit (Etappen) nach Dichte-Kategorie des Wohnortes. (Quelle: eigene Berechnung aufgrund BFS/ARE MZMV 2015, STATPOP 2015 und STATENT 2014)

Kein Irrtum ist aber, dass wir im Ausland mobiler werden: 2015 entfielen rund 45% der Gesamtjahresmobilität von 24’849 km pro Person und Jahr auf das Ausland. Während die Jahresmobilität im Inland stabil blieb, kann der Grossteil der Zunahme von rund 4000 km gegenüber 2010 auf Reisen im Ausland zurückgeführt werden. Der Grossteil davon wird per Flugzeug zurückgelegt.

Irrtum 2: Der Autoverkehr ist das Rückgrat unserer Mobilität 

Das wichtigste Verkehrsmittel ist – gemessen an den Distanzen – mit einem Anteil von 66.1% das Auto (MIV). Der öffentliche Verkehr folgt mit 24.4%, der Langsamverkehr mit 7.6%. Der Anteil des MIV hat seit 1994 von 69.7% leicht abgenommen. Gesteigert hat sich der Anteil des öffentlichen Verkehrs (ÖV) von 17.8% um 6.6 Prozentpunkte; der Langsamverkehr (LV) blieb relativ konstant.

Das Auto wird deshalb oft als wichtigster Verkehrsträger bezeichnet. Die Betrachtung nach Distanzen – oft als «Verkehrsleistung» bezeichnet – stellt aber nur eine Betrachtungsweise dar und unterschlägt die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Verkehrsmittel. Werden die Anteile nach Tagesunterwegszeit betrachtet, dann ist der Langsamverkehr gleichbedeutend wie der MIV (41% LV, 42% MIV, 14% ÖV). Gemessen nach Anzahl zurückgelegter Etappen ist der Langsamverkehr mit 48% klar das wichtigste Verkehrsmittel (37% MIV, 14% ÖV). Der Fussverkehr entpuppt sich mit 42.7% als Hauptverkehrsmittel schlechthin.

Irrtum 3: Die Verkehrsmittelwahl ergibt sich aus einer Notwendigkeit heraus 

Hauptgrund bei der Wahl des Verkehrsmittels ist der Komfort. Sowohl das Auto wie auch der Zug und Bus werden gewählt, weil es die einfachste und bequemste Lösung ist (MIV: 43.9%; ÖV: 41.8%). Mangelnde Alternativen sind beim MIV nur in 23.3% der Fälle ein Grund, die Reisezeit zu 22.9% und der Gepäcktransport ist untergeordnet in 13.6% ausschlaggebend.

Das bequemste Verkehrsmittel ist leider oft nicht das effizienteste. Die Darstellung der Summenhäufigkeit der Etappenlängen nach Verkehrsmitteln zeigt, dass ein Drittel aller Auto-Etappen kürzer als 3 km sind; eine Distanz, die gut mit dem Velo zurückgelegt werden könnte.

Abbildung 2: Summenhäufigkeit der Etappenlängen nach ausgewählten Verkehrsmitteln, 2015. (Quelle: eigene Darstellung nach BFS/ARE MZMV 2015)

Interessant bleibt der Trend E-Bike: Dieses erhöht die mittlere Etappenlänge gegenüber dem Velo nur von 3.3 auf 4.4 km. Es wird in den nächsten Erhebungen zu beobachten sein, ob das E-Bike nicht aus Komfortgründen Velo-Etappen, anstatt wie erhofft die kurzen MIV-Wege ersetzen wird.

Den Verkehr gestalten 

Das Verkehrsverhalten der Menschen ist hochkomplex und wird von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Auch wenn die Statistik das Gemeinsame, das Muster hinter den individuellen Bewegungen sucht und aufdeckt, stehen bewusste und unbewusste Entscheide von Individuen dahinter. Dabei geht gern vergessen, dass der Verkehr nicht ein Naturereignis, sondern ein Phänomen ist, hinter dem höchst anpassungsfähige Menschen stehen und damit von uns auch geformt werden kann. Wir haben den Verkehr, wie wir ihn gestalten.

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Bubenhofer, Jonas (2017): Das Verkehrsverhalten der Schweizer Bevölkerung: Wahrnehmung versus Empirie. In: Collage. Zeitschrift für Raumplanung, Umwelt, Städtebau und Verkehr, Nr. 5/17, Mobilität / Mobilité / Mobilità – quo vadis? S. 4-5.