Zusammenhang von baulicher Qualität und Aufenthaltsnutzung

| Jonas Bubenhofer |

Der Zusammenhang von räumlicher Qualität und der Nutzung dieser Räume durch die Menschen ist empirisch nicht einfach nachzuweisen. Wir gehen intuitiv und aus eigener Erfahrung davon aus, dass attraktive Räume dazu führen, dass sich die Menschen lieber, öfter und länger darin aufhalten. Empirische Untersuchungen dazu sind jedoch selten. Im Rahmen des SVI-Forschungsprojekts «Fussverkehrspotenzial in Agglomerationen» konnte ich dieser Fragestellung anhand von Fallbeispielen vertieft nachgehen.

Die Nutzung des öffentlichen Raums durch die Menschen sagt viel über den Raum aus. Wie auch hier dargelegt, sind die Struktur der Nutzenden (Geschlecht, Alter), die Tätigkeiten und das Kommunikations- bzw. das soziale Verhalten im Raum Indikatoren für die Qualität, die Funktion und die Bedeutung des öffentlichen Raums.

Charakteristiken des Fussverkehrs

Der Fussverkehr in einem umfassenden Sinn beinhaltet ein breites Spektrum von Tätigkeiten von der direkten Fortbewegung von A nach B über die Bewegung mit einer gewissen Offenheit für Unvorhergesehenes bis zum bewussten Schlendern oder Aufenthalt an einem Ort, der Wohlbefinden auslöst. Da in diesem Spektrum unterschiedlichste Motive und Ansprüche hinter jeder Fortbewegungsart stehen, bestehen je nach Art unterschiedliche Wechselwirkungen:

  • Der Fussverkehr reagiert sehr empfindlich auf äussere Einflüsse und unterscheidet sich je nach Fortbewegungsart.
  • Die Ansprüche des Fussverkehrs gründen auf dem Bedürfnis nach Schutz (Sicherheitsempfinden), Wohlbefinden (Situation für das Gehen, Aufhalten, für Aktivitäten und Orientierung) und Sinnlichkeit (Qualität des Raumes, Erlebniswert).
  • Die funktionale Fortbewegung von A nach B reagiert am wenigsten auf äussere Einflüsse, da meist keine Alternative vorhanden ist und der Fussverkehr sehr umwegempfindlich ist: es wird oftmals der direkteste Weg unabhängig vom Umfeld gesucht. Der Aufenthalt, bzw. die verweilende Fortbewegung im öffentlichen Raum stellt die höchsten Ansprüche bzw. reagiert am sensibelsten auf äussere Einflüsse.
  • Anzeichen für eine hohe Qualität des öffentlichen Raums sind ein hoher Anteil verweilender Tätigkeiten der Personen im Raum und soziale Interaktionen (Kommunikation, Treffen), da diese “optionalen” Tätigkeiten am stärksten auf äussere Einflüsse reagieren.

In jeder Gemeinde besteht ein Grundbedarf an Räumen für kommunikative und verweilende Tätigkeiten der Menschen, da dies Grundbedürfnisse des Menschen sind. Bis zu einem gewissen Grad findet die Aufenthaltsnutzung deshalb unabhängig von der Qualität der Räume statt. Mit einer hohen Qualität des Siedlungsraums kann diesem Bedürfnis nach kommunikativen und verweilenden Tätigkeiten im öffentlichen Raum auch über den Grundbedarf hinaus Raum gegeben werden. Doch nicht jeder Ort hat die gleiche Bedeutung hinsichtlich funktionaler, kommunikativer oder verweilender Aktivitäten. Nicht überall muss ein hoher Anteil verweilende Menschen angestrebt werden. Verweilende Menschen sind jedoch ein guter Indikator für die Qualität des öffentlichen Raums.

Abbildung 1 verortet die untersuchten Fallbeispiele in den drei Dimensionen funktionale, kommunikative und verweilende Tätigkeiten. Die Darstellung veranschaulicht die Attraktivität der verschiedenen Fallbeispiele für den Fussverkehr anhand der beobachteten Tätigkeiten der Personen. Je mehr das Fallbeispiel von den Dimensionen verweilende und kommunikative Tätigkeiten geprägt ist, desto attraktiver ist der Raum. Je mehr das Fallbeispiel von der Dimension funktionale Tätigkeiten geprägt ist, desto unattraktiver ist tendenziell der Raum. Insbesondere in solchen Räumen müssen die Bedingungen für den Fussverkehr in den Bereichen “Schutz” (Verkehrssicherheit, Sicherheitsempfinden) und “Wohlbefinden” (Breite der Gehbereiche, Attraktivität des Netzes, Aufenthaltsraum, Erlebniswert, Lärmpegel etc.) geprüft und ggf. verbessert werden.

Abb. 1: Verortung der untersuchten Fallbeispiele nach Tätigkeiten der erfassten Personen (Blasengrösse = Anzahl erfasste Personen).

A) Generelle Zusammenhänge von baulicher Qualität und Aufenthaltsnutzung

Die Wirkungszusammenhänge sind zwar sehr vielschichtig und die Vorstellung, dass das menschliche Verhalten im öffentlichen Raum deterministisch auf die Gestaltung reagiert, ist auf jeden Fall falsch. Trotzdem zeigen sich folgende Zusammenhänge von baulicher Qualität und Aufenthaltsnutzung:

  • Es besteht in der Tendenz ein Zusammenhang von baulicher Qualität des Raums und der Anzahl Personen, die diesen Raum zum Verweilen nutzen: je höher die Qualität, desto mehr Aufenthalt mit verweilenden Tätigkeiten.
  • Der Anteil verweilende Personen ist in Strassenräumen auf einem tieferen Niveau als in Platzräumen: damit Menschen im öffentlichen Raum verweilen, braucht es entsprechend grosszügige Flächen.
  • Insbesondere zum Verweilen reagiert der Fussverkehr sehr sensibel auf mangelnden Schutz: das subjektive Sicherheitsempfinden muss hoch sein (genügend grosse “sichere Flächen”, genügend grosser Abstand zum Strassenverkehr, tiefe Geschwindigkeiten).
  • Eine schlechte Bewertung im Bereich Sinnlichkeit kann mit guten Bewertungen in den Bereichen Schutz und Wohlbefinden gemildert werden.
  • Die Konzentration vieler Nutzungen (Geschäfte, Gastronomie etc.) macht einen öffentlichen Raum zu einem Begegnungsort (hoher Anteil kommunikativer Tätigkeiten). Dieser hat dann für die Menschen nicht Bedeutung als Ort zum Verweilen, sondern als Ort für soziale Kontakte.
  • Auch “öffentliche” Räume in Privatbesitz (z.B. auf dem Areal eines Einkaufszentrums) können die Funktion eines öffentlichen Raumes einnehmen und als “Zentrum” einer Gemeinde wahrgenommen werden.
  • Eine Gewichtung der Kriterien, die für Aufenthalt wichtig sind, scheint kaum möglich zu sein: Zwar scheinen die bauliche Qualität des Raumes und genügend dem Fussverkehr vorbehaltene Fläche zentral. Doch es ist eher von einem Netz von Faktoren, die für das Aufenthaltsverhalten entscheidend sind, auszugehen, als von einer Pyramide von aufeinander aufbauenden Faktoren.

Die Ergebnisse zeigen somit in der Tendenz, dass eine hohe bauliche Qualität des öffentlichen Raumes grundsätzlich immer anzustreben ist, weil damit die Ansprüche der zu Fuss gehenden Menschen nach Schutz, Wohlbefinden und Sinnlichkeit besser erfüllt werden und der Fussverkehr insgesamt gefördert wird. Eine hohe bauliche Qualität wirkt sich folglich nicht nur positiv auf den Aufenthalt an sich aus, sondern ist allgemein attraktiv für den Fussverkehrs. Weiter zeigt sich, dass die Aufenthaltsnutzung eines Raumes immer auch im Zusammenhang mit den angrenzenden Räumen und mit dem Angebot an Räumen in fussläufiger Distanz in einem Ort gesehen werden muss. Die vorhandenen Nutzungen, die Lage im Netz und alternative Räume für den Aufenthalt in Fussdistanz haben einen Einfluss auf die Aufenthaltsnutzung, der unabhängig von der tatsächlichen Ausgestaltung des betrachteten Raumes ist.

B) Bauliche Elemente und räumliche Aspekte der Aufenthaltsnutzung

Nebst den oben genannten generellen Wirkungszusammenhängen ergeben sich folgende Zusammenhänge zu spezifischen räumlichen Aspekten und baulichen Elementen:

  • Verweilende Tätigkeiten (sitzend und stehend) finden bevorzugt um Elemente herum statt, die einen gewissen “Schutz” bieten: Wände, Ecken, Stufen, Sitzelemente, Velounterstand, Brunnen etc., einem Ort, wo man sich “festhalten” kann.
  • Verweilende Tätigkeiten finden bevorzugt dort statt, wo einige Meter “sichere” Fläche (dem Fussverkehr vorbehalten) rundherum vorhanden ist. Zuviel Fläche kann jedoch die gegenteilige Wirkung haben, weil sich die Menschen verloren oder ausgestellt fühlen. Es gilt also, das richtige Mass der Grösse in Bezug auf das mögliche Nutzungspotenzial zu finden und diese Fläche z.B. mit unterschiedlichen Belägen, flexibler Möblierung, Bepflanzung etc. soweit zu strukturieren, dass ein angenehmes Raumgefühl entsteht, gleichzeitig der Raum aber nicht überdeterminiert wird.
  • Verweilende Tätigkeiten finden bevorzugt in zentralen Bereichen statt, wo eine gewisse Übersichtlichkeit und eine gute Orientierung gegeben sind.
  • Kommunikative Tätigkeiten hingegen scheinen unabhängig von räumlichen Aspekten zu sein.
  • Bushaltestellen können in kleineren Gemeinden zu den zentralsten Orten mit hoher Bedeutung für die Menschen gehören. Neben der Funktion für die Mobilität haben sie auch soziale Bedeutung. Die Ausgestaltung solcher Bushaltestellen wird dieser Bedeutung oftmals nicht gerecht.
  • Angebote wie Spielplätze, Möblierung / Sitzgelegenheiten (nicht nur Bänke) ziehen Personen an.
  • Aussengastronomie kann, wo vorhanden, ebenfalls zu einer gewissen Belebung führen und damit den Raum zusätzlich interessant machen. 

C) Zeitliche Aspekte der Aufenthaltsnutzung

  • Verweilende Tätigkeiten sind den ganzen Tag über zu beobachten, zeigen aber eine ausgeprägte, breite Spitze am Nachmittag zwischen 14 Uhr und 19 Uhr. Der Nachmittag ist somit die wichtigste Tageszeit für das Verweilen. Aufenthalt für die Tätigkeit “Essen und Trinken” konzentriert sich stark auf zwei schmale Spitzen am Mittag und um ca. 16:30 Uhr.
  • Kommunikative Tätigkeiten sind weniger stark vom Tagesverlauf geprägt.
  • Funktionale Tätigkeiten sind vor allem am Vormittag und am Nachmittag von grosser Bedeutung.
  • Für eine gleichmässige Belebung des öffentlichen Raums über den gesamten Tag reicht das Vorhandensein von kommerziellen Nutzungen etc. nicht aus. Der Ort muss darüber hinaus die Menschen anzuziehen vermögen.
  • Spielplätze und Spielgelegenheiten führen am Morgen und am Nachmittag (bis ca. 18 Uhr) zu einer Belebung durch Kinder und ihre Eltern. Am Mittag und am Abend ab ca. 19/20 Uhr sind nur noch wenige Kinder zu beobachten.
  • Aussengastronomie ist geprägt von einer sehr starken Mittagsspitze sowie einer zweiten, breiteren Spitze zwischen 16 Uhr und 19 Uhr.
  • Im Winter sind im Vergleich zum Sommer an Werktagen etwa 40% weniger sich im öffentlichen Raum aufhaltende Personen zu beobachten.
  • In der Tendenz erhöht sich im Winter im Vergleich zum Sommer der Anteil funktionaler Tätigkeiten auf Kosten der verweilenden Tätigkeiten, insbesondere in den Platzräumen.

Fazit

Mit einer geeigneten Methodik lässt sich der öffentliche Raum und das Verhalten der Menschen heute sehr gewinnbringend analysieren. Das Verständnis der Charakteristiken der Aufenthaltsnutzung und der Wechselwirkungen zwischen baulicher Qualität und der Aufenthaltsnutzung eröffnen einen Gestaltungsspielraum: Welche Bedeutung hat der Raum heute für die Menschen? Wie soll sich der Raum entwickeln? Was braucht es, um den Raum in diese Richtung zu weiterzuentwickeln? Sozialräumliche Analysen geben Antworten auf diese Fragen.

Forschungsbericht SVI 2015/006 Fussverkehrspotenzial in Agglomerationen