Zusammenhang zwischen Siedlungsstruktur und Mobilitätsverhalten. Ein neuer Blick auf den Mikrozensus.
Zusammenfassung des Vortrags im Rahmen der SVI-Veranstaltungsreihe “Optimale Geschwindigkeiten in Siedlungsgebieten” vom 22.05.2014 in St. Gallen. Der Beitrag wurde im Tagungsband publiziert.
| Jonas Bubenhofer |
Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Siedlungsstruktur und dem Mobilitätsverhalten der dort ansässigen Personen? Führen spezifische Siedlungsstrukturen zu einem spezifischen Mobilitätsverhalten? Welche Rolle spielt dabei die Geschwindigkeit? Welche Chancen bietet die Innenentwicklung für die Mobilität? Dieser Fragestellung ging Metron in einem internen Forschungsprojekt 2013 nach.
Grundidee des methodischen Vorgehens war die Verknüpfung der Daten des Mikrozensus Mobilität und Verkehr (MZMV) des BFS/ARE mit Daten zu Anzahl Einwohner*innen und Arbeitsplätzen. Konkret wurden die befragten Haushalte des MZMV aufgrund des Umfelds ihres Wohnortes beschrieben und kategorisiert. Somit wurden alle befragten Haushalte des MZMV, die sich bezüglich Siedlungsstruktur in einem ähnlichen Umfeld befinden, gruppiert und nach ihrem Mobilitätsverhalten ausgewertet, unabhängig davon, in welcher Gemeinde sie sich befinden. Dieses Vorgehen eröffnete einen neuen Blick auf den MZMV, denn die räumliche Differenzierung erfolgt nicht wie üblich aufgrund Typisierungen anhand administrativer Einheiten, sondern aufgrund der Siedlungsstruktur.
Modalsplit nach Dichte-Kategorie
Bezüglich Modalsplit wurde von folgender Arbeitshypothese ausgegangen: Je dichter (im Sinne der Bevölkerungsdichte) ein Siedlungsgebiet ist, desto mehr Wege legen die dort wohnenden Personen zu Fuss-, mit dem Velo und mit dem öffentlichen Verkehr zurück und desto weniger Wege mit dem Auto (motorisierter Individualverkehr, MIV).
Abbildung 2: Modalsplit nach Dichtekategorie: Basis Inlandwege und mittlere Bevölkerungsdichte im Umkreis von 300m
Abbildung 2 bestätigt diesen Zusammenhang sehr klar. Von der lockersten Dichte-Kategorie von 1-19 EW/ha bis zur höchsten Kategorie von 160 oder mehr EW/ha nimmt der MIV-Anteil von 62% auf 24% der Inlandwege ab, was mehr als einer Halbierung entspricht. Der Fussverkehrsanteil verdoppelt sich entsprechend von 23% auf 46%. Der Velo-Anteil nimmt auf tiefem Niveau ebenfalls um einen Drittel zu von 6% auf 8%.
Auffällig ist, dass die Abnahme des MIV-Anteils und die Zunahme des ÖV-Anteils an der “Dichte-Schwelle” bei ca. 100 EW/ha stagniert. Dies bedeutet, dass in den obersten Dichte-Kategorien die Abnahme des MIV vor allem zugunsten des Langsamverkehrs ausfällt. Der ÖV gewinnt hier keine Anteile mehr.
Modalsplit nach Detailhandelsangebot
Als weiteren Aspekt der Siedlungsstruktur wurde das Angebot des Detailhandels bzw. der Nahversorgung untersucht. Abbildung 3 zeigt die Auswertung anhand der Kategorisierung der Anzahl Beschäftigte in Detailhandelsbetrieben in der Umgebung. Der Modalsplit bezieht sich nur auf die Wege mit Zweck “Einkauf”.
Auch hier zeigt sich klar der Zusammenhang zwischen Quantität des Detailhandelsangebots und Modalsplit. Während bei fehlendem Angebot 73% der Einkaufswege mit dem Auto zurückgelegt werden, nimmt der Anteil bei grösserem Detailhandelsangebot in zwei Stufen ab. Bei einem Angebot von 40 bis 69 Detailhandels-VZA/ha liegt der MIV-Anteil noch bei 38 bis 43%, bei über 80 VZA noch bei 24%. Im Gegensatz dazu vervielfacht sich der Fussverkehrsanteil von 17% (bei fehlendem Angebot) auf 58% bei sehr gutem Angebot.
Abbildung 3: Modalsplit nach Detailhandelsangebot: Basis Inlandwege mit Zweck “Einkauf” und Summe NOGA47-VZA im Umkreis von 300m
Dabei ist zu beachten, dass der Grossteil der Schweizer Bevölkerung mit keinem oder nur minimalem Detailhandelsangebot (1-9 VZA) auskommen muss: ca. 1.4 Mio. Menschen ohne Angebot, ca. weitere 1.75 Mio. Menschen mit minimalem Angebot von 1-9 VZA.
Modalsplit nach Nahversorgungsangebot
Mit dem Nahversorungsindex werden nicht nur Einkauf, sondern auch lokale Freizeitangebote und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs berücksichtigt.
Abbildung 4: Modalsplit nach Nahversorgungsangebot: Basis Inlandwege und Nahversorgungsindex im Umkreis von 300m
Abbildung 4 zeigt den Effekt noch deutlicher wie beim Detailhandelsangebot. Der MIV-Anteil nimmt von Haushalten ohne Nahversorgungsangebot von 60% auf noch einen Drittel (auf 18%) ab, wobei bereits beim Index-Wert von 30 (entspricht Angebot im Zentrum einer Kleinstadt), der Anteil noch 25% der Wege beträgt. Hier zeigt sich, dass mit einem Nahversorgungsangebot wie es im Zentrum von Kleinstädten zu finden ist, bereits über die Hälfte der Wege zu Fuss oder mit dem Velo zurückgelegt werden, weil für die meisten Alltagswege die Ziele in kurzer Distanz erreichbar sind.
Wegdistanzen nach Dichtekategorie
Die Auswertungen zum Modalsplit nach Dichte-Kategorie bzw. nach Nahversorgungsangebot legen die Annahme nahe, dass bei höherer Dichte auch die Wege kürzer sind. Abbildung 5 stellt die Wegdistanz in Abhängigkeit der Einwohnerdichte dar. Der vermutete Zusammenhang zeigt sich in entsprechender Deutlichkeit: Während Personen der Dichte-Kategorie 1-19 EW/ha rund 41 km pro Tag zurücklegen, legen Personen der dichtesten Kategorie mit 21 km nur die Hälfte der Distanz zurück, um ihre Bedürfnisse befriedigen zu können.
Abbildung 5: Wegdistanz nach Dichte-Kategorie: Basis Inlandwege (Routingdistanz) und mittlere Bevölkerungsdichte im Umkreis von 300m
Die Abnahme der Distanz mit zunehmender Dichte begründet sich mit der Abnahme der MIV-Kilometer von 31 auf 10km, während die mit dem ÖV zurückgelegten Wegdistanzen in etwa konstant bleiben. Mit zunehmender Dichte werden somit lange MIV-Wege durch kurze Fuss- und Velo-Wege ersetzt. Die Mobilitätsbedürfnisse können in dichten Gebieten offensichtlich in der Nähe befriedigt werden. Dem wird oft entgegengehalten, dass eine hohe Dichte einen “Dichtestress” auslöse und Personen, die in dichten Gebieten leben, zum Ausgleich umso längere Freizeitwege zurücklegen müssen, um sich zu erholen. Abbildung 6 widerlegt diese Vermutung klar. Die Abnahme der Wegdistanzen bei zunehmender Dichte zeigt sich für alle Wegzwecke, auch für die Freizeitwege.
Abbildung 6: Wegdistanz und Wegzweck nach Dichte-Kategorie: Basis Inlandwege (Routingdistanz) und mittlere Bevölkerungsdichte im Umkreis von 300m
Anzahl Wege und Dauer nach Dichte-Kategorie
Gewissermassen als Kontrollauswertung wurde die Anzahl Wege pro Person und Tag und die Dauer der Unterwegszeit pro Person und Tag nach Dichte-Kategorie ausgewertet.
Abbildung 7: Anzahl Wege und Wegdauer nach Dichte-Kategorie: Basis Inlandwege und mittlere Bevölkerungsdichte im Umkreis von 300m
Abbildung 7 zeigt die seit langer Zeit bekannte Systemeigenschaft der Reisezeitkonstanz nun nicht über die Jahrzehnte (Längsschnitt), sondern nach Dichte-Kategorie des Wohnorts (Querschnitt). Unabhängig von der Dichte der Wohnumgebung legen die Personen knapp 3.5 Wege pro Tag zurück und investieren dazu rund 83 Minuten pro Tag.
In Kombination mit den Auswertungen weiter oben bedeutet dies, dass die Personen in lockeren Dichten ihre Unterwegszeit vorwiegend im Auto zurücklegen und dabei weite Distanzen zurücklegen, um ihre Mobilitätsbedürfnisse zu befriedigen. Diese Distanzen sind notwendig, weil sich in solchen Gebieten keine kritische Grösse für die Konzentration eines genügenden Angebots ergibt. Personen in dichten Gebieten hingegen befriedigen ihre Mobilitätsbedürfnisse in näherer Distanz, sind dafür vorwiegend zu Fuss und bei gleicher Unterwegszeit mit geringer Geschwindigkeit unterwegs.
Fazit
Die Auswertung der Siedlungsstrukturen zeigte, dass rund die Hälfte der Schweizer Bevölkerung in einem Siedlungsumfeld von durchschnittlich weniger als 40 EW/ha mit entsprechend minimaler Nahversorgung und ÖV-Erschliessung leben. Dies stellt für sowohl für die Raum- wie für die Verkehrsplanung eine grosse Herausforderung dar.
Vor dem Hintergrund der Innenentwicklung und Verdichtung unserer Siedlungen machen die Auswertungen auch deutlich, dass die Erhöhung der Anzahl Personen pro Fläche mit einer entsprechenden qualitativen Verdichtung einhergehen muss, um das Quartier auf das funktionale Niveau eines dichten Quartiers zu heben. Dazu muss zudem ein attraktives Umfeld für die leistungs- und raumeffizienten Verkehrsmittel, die in diesem Umfeld geeignet sind, geschaffen werden: leistungsfähiger öffentlicher Verkehr und ein attraktives und sicheres Umfeld für den Fuss- und Veloverkehr. Für letztere zwei sind die derzeitigen Geschwindigkeiten im Siedlungsbereich zu hoch.
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Zitiervorschlag:
Bubenhofer, Jonas (2015): Dichte und Mobilitätsverhalten. Ein neuer Blick auf den Mikrozensus. In: Schweizerische Vereinigung der Verkehrsingenieure und Verkehrsexperten SVI (Hrsg.): Optimale Geschwindigkeiten in Siedlungsgebieten. Zürich, S. 56-60.